Wirtschaftsweise wollen neue Arbeitszeiten

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Das Arbeitszeitmodell in Deutschland bedeutet vereinfacht: An fünf Tagen in der Woche werden 40 Stunden gearbeitet. Einige Experten halten dieses Modell für überholt und fordern das Ende des Acht-Stunden-Arbeitstages.

Der Rat der Wirtschaftsweisen, der die Bundesregierung berät, hält das geltende Arbeitszeitmodell für überholt und will, dass die Arbeitszeitregeln fundamental “gelockert” werden.

“Der Gedanke, seinen Arbeitstag morgens um acht Uhr im Büro zu beginnen und ihn zu beenden, wenn man ihn am späten Nachmittag wieder verlässt, ist nicht mehr zeitgemäß”, sagte Christoph Schmidt, der Vorsitzende des Sachverständigengremiums, der Tageszeitung “Die Welt”. Die Gesetzgebung zum Schutze der Arbeitnehmer seien in Deutschland effizient gewesen, würden aber nicht mehr zu unserer durchdigitalisierten Arbeitswelt passen.

In Deutschland ist es Arbeitgebern verboten, die meisten Arbeitnehmer mehr als acht Stunden am Tag arbeiten zu lassen. Den Angestellten stehen außerdem eine 30-minütige Mittagspause und wenigstens elf Stunden Erholungszeit zwischen zwei Arbeitstagen zu.

“Weniger zu arbeiten wäre unangemessen”

Das, so das fünfköpfige Expertengremium, schränke die Arbeitgeber zu sehr ein. In ihrem jährlichen Bericht, der am vergangenen Dienstag veröffentlicht worden ist, fordern die Ökonomen, dass die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden beschränkt werden sollte anstatt wie jetzt auch acht Stunden pro Tag und es müssten mehr Ausnahmen für die Regelung zugelassen werden, dass zwischen zwei Arbeitseinsätzen elf Stunden freier Zeit liegen müssen.

Ebenso lehnen es die Experten ab, die Arbeitszeit generell zu verkürzen. Das sei “in Zeiten, in denen es wegen des demographischen Wandels zu einem immer größer werdenden Fachkräftemangel komme, unangemessen”.

Knackpunkt für Jamaika

Das Arbeitszeitgesetz ist einer der umstrittenen Punkte in den zurzeit laufenden Sondierungsgesprächen zur Bildung einer neuen Bundesregierung durch eine sogenannte Jamaika-Koalition. CDU, CSU und FDP favorisieren eine Lockerung der bestehenden Gesetze zugunsten der Arbeitgeber, während die Grünen eine höhere Flexibilität anstreben, die eher den Arbeitnehmern zugute kommen soll.

Arbeitgeberverbände fordern schon seit langem, das Arbeitszeitgesetz zu ändern, während die Gewerkschaften dies als einen Versuch, aus den Arbeitnehmer mehr Arbeit zu pressen, ablehnen.

Arbeitskampf vor mehr als 100 Jahren: Textilarbeiterinnen, die für menschlichere Arbeitszeiten streiten.

Über Jahrzehnte erstritten

In Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, sind Arbeitszeitgesetze beinah zu etwas wie einer heiligen Kuh geworden. Das liegt in ihrer Geschichte begründet, denn diese Regelungen sind über viele Jahrzehnte hinweg erstritten worden.

Bei der Begrenzung der Arbeitszeit spielte die Ford Motor Company in den USA eine Vorreiterrolle, die 1914 die tägliche Arbeitszeit ihrer Arbeiter einschränkte. Entgegen der allgemeinen Erwartungen konnte Ford durch diesen Schritt die Produktivität erhöhen, was andere Firmen veranlasste, diesem Beispiel zu folgen.

In Deutschland hatten einige Firmen, unter ihnen Bosch und Bayer, bereits zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt. Erst mit dem Ende des ersten Weltkrieges im Jahr 1918 wurde das in Deutschland gesetzlich festgeschrieben – obwohl der Samstag noch für Jahrzehnte ein Regelarbeitstag blieb. Erst in den siebziger Jahren wurde für die große Mehrheit der Arbeiter die 40-Stunden-Woche zur Regel.

Ist die Digitalisierung Segen oder Fluch?

2016 hatte die in Paris ansässige Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) errechnet, dass ein durchschnittlicher Arbeiter in Deutschland weniger Arbeitsstunden im Jahr leistet als seine Kollegen in allen anderen Mitgliedsstaaten der OECD. Allerdings spielen so viele Kriterien in dieser Statistik eine Rolle, dass eine Vergleichbarkeit verschiedener Länder nur bedingt gegeben ist.

Ebenso unklar ist, welchen Effekt die Digitalisierung tatsächlich auf die Arbeitszeit hat und wie willkommen das den Arbeitnehmern ist oder nicht. Einerseits scheint es keinen Dissens darüber zu geben, dass die digitale Kommunikation sowohl Arbeitgebern wie Arbeitnehmern mehr Flexibilität einräumt, wenn es um die Frage geht, wann und wo die Arbeit gleistet wird. Andererseits führt die Omnipräsenz von Mobiltelefonen dazu, dass Arbeitnehmer, wenigstens theoretisch, ständig “in Bereitschaft” stehen oder stehen müssen.

Arbeiten an jedem Ort, zu jeder Zeit: Traum oder Albtraum? Das hängt ganz vom Standpunkt ab …

E-Mails und die sozialen Netzwerke haben allein durch ihre Existenz neue Aufgabenfelder geschaffen, auf denen die Arbeitnehmer nun gefordert sind – und diesen Tätigkeiten müssen sie oft in der eigentlich arbeitsfreien Zeit nachgehen.

In einer ebenfalls 2016 veröffentlichten Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hatten 46 Prozent der befragten Menschen angegeben, dass die Digitalisierung zu Mehrarbeit geführt habe, während nur neun Prozent der Befragten sagten, ihr Leben sei dadurch einfacher geworden.

Nicht alle Jobs sind betroffen

Die Arbeitszeitgesetze mögen nahelegen, der Acht-Stunden-Tag sei in Deutschland die Norm, aber die Realität bestätigt das nicht unbedingt. Beispielsweise wird die Arbeitsleistung von Selbständigen und Scheinselbständigen in den meisten Arbeitsstatistiken nicht erfasst und die Arbeitszeitregelungen treffen auf sie auch nicht zu – und diese Gruppe macht wenigstens zehn Prozent der Arbeitenden in diesem Land aus.

Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zeigen, dass über die Hälfte dieser Personengruppe 2016 mehr als 48 Stunden in der Woche gearbeitet hat und auch am Wochenende tätig war.

Der Streit um Reformen bei Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitregeln fängt gerade erst an.

Der Streit hat gerade erst begonnen

Arbeitgeber bestätigen, dass viele Deutsche mehr als gesetzlich vorgesehen arbeiten, machen dafür aber einen allgemeinen Fachkräftemangel verantwortlich. Arbeitnehmervertreter sind besonders besorgt, was die Zahl der unbezahlten Überstunden angeht. Laut Destatis sind im vergangenen Jahr 947 Millionen unbezahlte Überstunden in Deutschland geleistet worden. “Eine Milliarde nicht bezahlte Arbeitsstunden – das ist nichts anderes als Lohndiebstahl!”, sagte der DBG-Vorsitzende Reiner Hoffmann gegenüber der ARD.

Noch bevor der Sachverständigenrat forderte, die Arbeitszeitregelungen zu lockern, hatte der DGB solche Forderungen bereits im Juni zurückgewiesen. Wie weit die Positionen in dieser Frage auseinanderliegen, zeigt die Forderung der größten Einzelgewerkschaft im DGB, der IG Metall, in der aktuellen Tarifrunde: Ginge es nach ihnen, würde die Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden herabgesetzt.