Die Vergessenen: Das Schicksal der Wolfskinder

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Über keine Opfergruppe des Zweiten Weltkrieges ist heute so wenig bekannt wie über die Waisenkinder Ostpreußens. Krieg, Hunger und Kälte überlebt, ohne Eltern aufgewachsen, sterben die letzten Wolfskinder langsam weg.

Überleben im Wald: Szene aus dem Kinofilm “Wolfskinder” aus dem Jahr 2012

Sie waren barfuß und hatten Läuse. Es muss im April 1946 gewesen sein, aber so genau weiß das Erika Smetonus nach so vielen Jahrzehnten nicht mehr. Ihre Mutter hatte den Krieg nicht überlebt, der Vater war irgendwo verschollen. Als nach dem Krieg die große Vertreibung und Flucht der Ostpreußen aus dem damaligen Königsberg begann und die Deutschen zu Zehntausenden Richtung Westen zogen, stand sie alleine da. Sie war elf – und verzweifelt, denn sie hatte beim Vorrücken der Roten Armee auch noch ihren kleinen Bruder verloren.

Stattdessen hatte sie sich einem etwas älteren Jungen angeschlossen, der immer vor ihr weglief, wenn er etwas zu essen hatte, um nicht teilen zu müssen. Gemeinsam schafften sie es bis Litauen. Bei einem Ehepaar fand Erika ein neues Zuhause. Den Jungen schickten sie weg, zwei wollten sie nicht aufnehmen. Erika Smetonus blieb für Jahrzehnte.

Litauen und die “Vokietukai”

Über die Zahl der Wolfskinder gibt es nur Schätzungen. Es könnten bis zu 25.000 sein, die nach 1945 durch die Wälder und Sümpfe Ostpreußens und Litauens irrten. Russen war die Aufnahme der “Faschistenkinder” streng verboten. Geht nach Litauen, hatte man ihnen gesagt, dort gäbe es Essen. Wenn sie Glück hatten, kamen die Vokietukai, die “kleinen Deutschen”, bei ihrem Marsch Richtung Baltikum durch Dörfer, deren Bewohner Mitleid zeigten und Suppen-Eimer vor die Türen stellten. Wenn sie Pech hatten, ließ schon der nächste Nachbar die Hunde von der Kette.

Kleinere Kinder fanden eher Aufnahme in fremden Familien als Ältere. Wer kein Dach über dem Kopf fand, musste im Wald überleben. Selbst die, die ein neues Zuhause finden, konnten nie sicher sein, wie lange sie bleiben dürften. Marianne Beutler, damals gerade zehn Jahre jung, kam bei einer litauischen Bauernfamilie über den Winter als Kindermädchen unter. Doch nach einem halben Jahr schickten sie Marianne wieder fort.

Name, Sprache, Identität – alles weg

In den sechs Monaten lernte sie litauisch – eine Lebensnotwendigkeit. Deutsch zu sprechen war verboten. Es gefährdete auch die Familien, die Wolfskinder aufgenommen hatten. Selbst der deutsche Name war hochriskant. Aus Marianne wurde Nijole. Und sogar das Wenige, was die elternlosen Kinder auf ihrer Flucht bei sich hatten – Familienfotos, Briefe, Adressen von Verwandten – wurde ihnen von den “neuen Eltern” abgenommen und vernichtet – ein nahezu kompletter Identitätsverlust. Es war der Preis des Überlebens.

Zweite Heimat Litauen: Wolfskind Luise Quietsch mit ihrer “Adoptivfamilie”. Sie nannten sie Alfreda

So hart das Dasein der Vokietukai in Litauen auch war – sie hatten das bessere Schicksal im Vergleich zu denen, die zu schwach waren, das Baltikum zu erreichen. Wer es nicht dorthin schaffte, landete in sowjetischen Heimen der Militäradministration. Rund 4700 deutsche Kinder sollen Recherchen zufolge im Herbst 1947 gezählt worden sein. Die Hälfte dieser Kinder wurde noch im gleichen Jahr in die sowjetische Besatzungszone – die spätere DDR – gebracht: in Güterwaggons ohne Stroh. Die zwei- bis 16-Jährigen kamen mehr tot als lebendig nach vier Tagen und vier Nächten in Ostdeutschland an. Dort kamen sie in Heime oder wurden an linientreue Kommunisten als Adoptivkinder vermittelt.

Das Versagen der Politik

Die Politik hat sich um die Wolfskinder lange nicht gekümmert. Als Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs wurden sie kleinlich und bürokratisch behandelt. Erst im Sommer 2016 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen. Doch die Wolfskinder wurden zum wiederholten Male nicht mitberücksichtigt.

Als Litauen 1990 seine Unabhängigkeit erlangte, nahmen die längst erwachsenen Wolfskinder die litauische Staatsbürgerschaft an. Genau deshalb wurde ihnen lange der deutsche Pass verweigert. Das Bundesverwaltungsamt hatte sich lange auf den Standpunkt gestellt, die Wolfskinder hätten mit dem Verlassen Ostpreußens auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit verzichtet. Wer dennoch deutsch werden wollte, musste komplizierte und langwierige Einbürgerungsverfahren hinter sich bringen.

Erste Heimat Ostpreußen: Luise “Alfreda” Quietsch vor dem Elternhaus, aus dem sie hatte fliehen müssen

Auch deutsche Renten wurden den Kriegswaisen verweigert. Immerhin zahlt Litauen “seinen” Wolfskindern eine Rente, wenn auch eine kleine. Wer unter den letzten Überlebenden noch Entschädigungsansprüche geltend machen will, muss bis Jahresende einen Antrag stellen.

Rudi Herzmann kehrt zurück – nach Litauen

Erika Smetonus hat den Jungen, der mit ihr 1946 Litauen erreichte, nie wieder gesehen. Ihren verloren geglaubten Bruder konnte sie hingegen nach 40 Jahren ausfindig machen. Und auch mit ihrem Vater gab es ein spätes Wiedersehen. Aber nicht jede Suche nach den verlorenen Menschen aus den grausigen Kindheitstagen ist erfolgreich. Auch die Sehnsucht nach einer deutschen Heimat hat sich nicht für jedes Wolfskind erfüllt.

Für Rudi Herzmann wurde sein jahrelanger Deutschland-Traum zum Albtraum. Angekommen im Land, dessen Sprache er als Kind einmal gesprochen hatte, musste er feststellen: Das ist nicht sein Land. Lange hatte er versucht heimisch zu werden, doch nach 13 Jahren kehrte er zurück, wohin ihn Flucht und Vertreibung verschlagen hatten – nach Litauen.