Separatisten wider Willen

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Das Vorgehen der spanischen Zentralregierung treibt in Barcelona hunderttausende Menschen auf die Straße – auch solche, die die Unabhängigkeit anfangs gar nicht wollten. Mariel Müller berichtet aus Barcelona.

“Ich bin ein erzwungener Independista”, sagt Oriol Bastelleros über sich. Ein Unabhängigkeitsbefürworter wider Willen sozusagen. “Bis vor ein, zwei Jahren war ich kein Unabhängigkeitsbefürworter. Aber jetzt ist für mich offensichtlich, dass die spanische Regierung uns keine andere Option übrig lässt, als dass wir selbst über uns bestimmen. Damit es irgendwie für uns weiter gehen kann und das auf eine gesunde und natürlich Weise.” “Irgendwie weitergehen” wird es auch für die Katalanen. Die Frage ist nur: Wie?

Die Erklärung des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, Katalonien zwar nicht die Autonomie zu entziehen, aber die führenden Köpfe der katalanischen Regionalregierung zu entmachten, haben viele Separatisten als schlechten Witz aufgefasst. Ein pures Lippenbekenntnis, konstatiert Oriol Bastelleros. Der Punkt sei ja, dass Katalonien keine Chance zu haben scheint auf einen Kompromiss. Zu sehr sei die Situation schon eskaliert.

“Sí” Stimme aus Protest

Oriol Bastelleros hätte beim Referendum mit “Nein” gewählt, aber dann hat sich seine Meinung geändert

Der 31-jährige Projektmanager geht mit seiner Schwester und ein paar Freunden auf die Hauptproteststraße in Barcelona – und das nicht zum ersten Mal. Die letzten Wochen gehörte es schon fast zum Alltag dazu, neben Ausgehen und Arbeiten. Dabei ist er, wie er betont, kein klassischer Unabhängigkeitsanhänger. “Das einzige was ich anfangs wollte, war: wählen. Und wahrscheinlich hätte ich mit ‘nein’ gewählt, aber dann habe ich diese antidemokratischen Aktionen dieser Leute gesehen”, erzählt er. Er meint die spanische Polizei und deren Einsatz von Gewalt am Tag des illegalen Referendums am ersten Oktober. “Am Ende haben sie es geschafft, mir ein Gefühl von Ungerechtigkeit zu geben. So etwas sollte doch nicht passieren, es sollte doch möglich sein ‘Ja’ oder ‘Nein’ zu wählen ohne Angst haben zu müssen.” Also wählte er schließlich – mit “Ja”.

Oriol und Laura bilden nur einen Teil der Demonstranten, die an diesem Samstag auf die Straße gezogen sind. Sie stehen für die grauen Schattierungen, die zwischen dem Schwarz und Weiß, dem “Sí” und “No” in der Frage nach der Unabhängigkeit leicht untergehen. Wie viele so denken wie das Geschwisterpaar, ist schwer zu sagen: Die allermeisten werden weder dem einen noch dem anderen Protestaufruf gefolgt sein. Vor zwei Wochen war ein “weißer Protest” mit der Forderung nach Dialog vor dem Rathaus in Barcelona aufmarschiert. Diese Forderung griffen die Separatisten schnell auf und somit war die grauschattierte Mitte wieder in katalanisches gelb-rot getaucht. 

Diese Farben leuchten auch dieses Mal wieder bei der Demonstration, die laut Angaben der katalanischen Polizei rund 450.000 Teilnehmer zählt. Die Organisatoren, alle großen Separatismusbewegungen, hatten dazu aufgerufen gegen die Verhaftung der beiden führenden Separatistenführer zu demonstrieren. Nach der Rede Mariano Rajoys mobiliserten sich viele, um auch gegen die eingeleitete Entmachtung der Regionalregierung auf die Straße zu gehen. In der von Beobachtern als unerwartet hart eingeschätzte Konsequenzen für Katalonien, hatte Rajoy die Neuwahlen in der Region binnen sechs Monaten angekündigt. Damit kommt erstmals der Verfassungsartikel 155 zum Entzug von Autonomierechten zur Anwendung.

“Jetzt wichtiger denn je auf die Straße zu gehen”

Laura Bastelleros hat keine Lust auf Flaggen, sie will keine Unabhängigkeit Kataloniens

Laura Bastelleros ist 23 Jahre alt und studiert Theaterwissenschaften an der Universität Barcelona. Auch sie sieht sich nicht als “klassische” Independista. Trotzdem, zu Hause bleiben konnte sie an so einem Tag auch nicht. “Ich bin heute hier, weil ich denke, dass der spanische Staat schon genug angerichtet hat. Er war zu repressiv, jetzt macht er sogar schon politische Verhaftungen.” Laura ist keine Demo-Dauergängerin, so wie ihr Bruder Oriol, aber jetzt habe sich etwas für sie geändert, sagt sie. “Wir sind jetzt in einer Situation, in der es wichtiger ist denn je auf die Straße gehen. Viel wichtiger noch als vorher.”

Die Stimmung ist ruhiger im Vergleich zu früheren Protesten der Unabhängigkeitsbewegung. Wo früher eher Studenten mobilisiert wurden und die Demos oft an Studentenmassenpartys inklusive Alkohol- und Drogenkonsum erinnerten, war dieses Mal ein gemischtes Publikum auf den Straßen darunter auch Familien mit Kleinkindern. Viele halten Schilder mit “Freiheit für die Jordis” in die Höhe, viele tragen zu Lauras Misfallen Flaggen und alle singen sie gemeinsam die katalanische Nationalhymne. Mit ernster, feierlicher Inbrunst und hochgereckten Händen.

Oriol und Laura singen gemeinsam mit ihren Freunden die katalanische Nationalhymne

Keiner der kleinen Gruppe hat eine katalanische Flagge dabei. Es gehe mehr um das Unrecht, das den Katalanen durch die harten Aktionen der spanischen Regierung widerfahren sei, statt um die Unabhängigkeit, erklärt Oriol. Laura ist auch kein Fan von Flaggen. “Ich finde nicht, dass das eine Demo für Flaggen sein sollte. Ich bin keine ‘independista’, ich gehe nicht hin, weil ich die Unabhängigkeit möchte, sondern weil ich es für die letzte demokratische Möglichkeit halte – in einem Spanien, das sich nicht demokratisch verhält.” 

Der vormals weitgehend homogene Protest, geleitet von dem Wunsch nach Abspaltung von Spanien, hat sich seit dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei am Tag des Referendums in eine Bewegung entwickelt, die zwar immer noch zu einem großen Teil klar und kompromisslos die Unabhängigkeit fordert, aber zu nicht unwesentlichen Teilen ergänzt wurde durch Menschen wie Oriol und Laura, die Madrid schlicht einen Denkzettel verpassen wollen. Dabei geht es ihnen vor allem um eine Botschaft, die schon der katalanische Noch-Regierungschef an die spanische Krone unmissverständlich übermittelt hat: “Así no!“ – “So nicht!”