50 Jahre “Hair”: Nackte Blumenkinder am Broadway

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Unter dem Eindruck des Vietnamkriegs feierte das Musical Hair vor 50 Jahren seine Uraufführung. Neben bunten Farben und fröhlichen Songs transportierte es die Hoffnung auf Frieden.

Im Angesicht des Krieges sind Freiheit und Frieden eine Hoffnung für die Zukunft. “Harmonie und Verständnis, Sympathie und Vertrauen, keine Falschheit mehr oder Spott, lebendige Träume goldener Visionen”, sangen die Darsteller 1967 in “Aquarius”, dem Eröffnungstitel des Musicals “Hair”. Das gepriesene Neue Zeitalter machte damals in den eher esoterisch geprägten Kreisen der Hippie-Bewegung die Runde, der rasante technologische Fortschritt und das soziale Miteinander galten als Grundlagen für eine friedliche Zukunft voll Brüderlichkeit. Was Gerome Ragni und James Rado, die beiden Autoren von “Hair”, wohl damals mit einem Blick in die Glaskugel darüber gedacht hätten, wie die Welt 50 Jahre nach der Uraufführung ihres Stücks tatsächlich aussehen würde?

Verrückt, zugänglich und groovy

Rado und Ragni trafen sich 1964 am Off-Broadway als Darsteller in einer Revue, die nur einmal aufgeführt wurde. Sie freundeten sich an und beschlossen, ein eigenes Stück über die jungen Leute, die im New Yorker East Village herumhingen, zu schreiben. “Auf einmal waren da diese Kids, die sich anders kleideten und ihre Haare lang trugen”, erinnerte sich James Rado in einem Interview. “Sie liefen mit Blumen durch die Straßen, waren sehr zugänglich und freundlich.” Sie seien auch ein bisschen verrückt gewesen – und groovy. Gepaart mit den anschwellenden Antikriegsprotesten jener Zeit war der Grundstein gelegt für “Hair – the American Tribal Love Rock Musical”.

Vietnamkrieg: 1965 fliegen Helikopter der US-Armee einen Angriff auf ein Camp der Viet Cong

Der Vietnamkrieg war damals auf dem Höhepunkt, und in den USA weigerten sich immer mehr junge Männer, ihrer Einberufung zum Militärdienst zu folgen. Eine Zeit des Aufbruchs, des Aufbegehrens: nicht nur gegen Krieg, sondern auch gegen die hierarchische Gesellschaft. Die langen Haare der männlichen Hippies waren dem Establishment zwar ein symbolischer Dorn im Auge, das Musical verdankt seinen Namen jedoch einem gleichnamigen Gemälde des Künstlers Jim Dine.

Flower Power grassierte nicht nur in New York, sondern auch an der Westküste der USA. In San Francisco begann der Summer of Love, in dem sich Zehntausende zur kollektiven Bewusstseinserweiterung trafen. Die Themen für Jugendliche und junge Erwachsene waren universell: der Sinn des Lebens, die Elterngeneration, Rassismus, das Entfliehen durch Drogen. In den USA formierten sich die afroamerikanische Bürgerrechtler und auch in Europa revoltierten die Studentenbewegungen gegen das politische System.

“Hair” feierte seine Uraufführung am 17. Oktober 1967 an einer neuen Bühne am Off-Broadway. In der sechswöchigen Spielzeit erhielt das Stück gute Kritiken. Michael Butler, Spross aus reichem Elternhaus, der sich für den Einzug in den US-Senat bewerben wollte, besuchte die Show, die er später als “stärkstes Antikriegsstatement, das je geschrieben wurde” bezeichnete. Butler erwarb Rechte an “Hair” und produzierte das Musical schließlich am Broadway, wo es am 29. April 1968 Premiere feierte – drei Wochen nach der Ermordung Martin Luther Kings und weniger als zwei Monate vor dem tödlichen Attentat auf Robert Kennedy.

Ausziehen als Akt der Befreiung

Am Broadway übernahm Tom O’Horgan die Regie und nahm ein paar inhaltliche Veränderungen vor: “Das Stück war sehr politisch, mir gefiel die Idee, die Aufführung wie ein Sit-In wirken zu lassen”, erzählte O’Horgan in den 1990er Jahren in einem TV-Interview. Das Stück verhandelte eine pazifistische und hedonistische Lebenseinstellung, die Aufhebung von Unterschieden zwischen Hautfarben und Geschlechtern. “Wir haben damals viel Staub aufgewirbelt”, sagte der Regisseur. Vorher habe es am Broadway keine Nacktheit gegeben. “Unsere Darsteller zogen ihre Kleider als Akt der Befreiung aus – und am Ende der Aufführung stürmte die Polizei auf die Bühne und nahm sie fest.” Obwohl es sich dabei um Schauspieler handelte, hielt das Publikum sie zunächst für echte Polizisten. Gegen tatsächliche staatliche Eingriffe hatten sich die Theatermacher vorsorglich abgesichert: Eine Stadtverordnung erlaubte Nacktheit auf der Bühne – solange sich die nackten Schauspieler nicht bewegten.

Blieb bekleidet: Diane Keaton spielte “Hair” in New York

Den Schauspielern stand es frei, ob sie auf der Bühne blank ziehen wollten. Die spätere Oscar-Preisträgerin Diane Keaton weigerte sich in ihren vier Jahren als Ensemblemitglied, sich auszuziehen. Lockerer sah das in der Londoner Aufführung Tim Curry, der später durch ein anderes Musical und vor allem dessen Verfilmung weltberühmt wurde: als Doktor Frank N. Furter in “The Rocky Horror Show”.

Während die beiden Autoren Rado und Ragni zwar keine Hippies waren, aber mit ihren zerzausten Haaren und Klamotten durchaus ins aufrüherisch-künstliche Bild passten, posierte der Jazzmusiker und Organist Galt MacDermot neben ihnen eher konservativ in Anzug mit Krawatte. “Ich war kein Hippie, sondern nur ein Musiker, also war es egal, wie ich aussah”, sagte MacDermot in einem Interview. Er kam dazu, als Buch und Texte schon geschrieben waren, und komponierte die eingängigen Melodien, mischte afrikanische Rhythmen unter die Rock- und Funkstücke.

Verfilmt: Filmplakat von 1979

Der Einfluss der Kompositionen auf die Musik der Gegenwart ist enorm. Die große Nina Simone hatte bereits Ende der 1960er Jahre mit “Ain’t got no, I got Life” ein Medley aus zwei “Hair”-Songs veröffentlicht, die Produktionen des Grammy-Gewinners Galt MacDermot wurden zum festen Bestandteil im Sampler-Fundus des US-HipHop. Das Musical feiert heute in Revivals seine Auferstehung, der Welterfolg wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in vielen Ländern aufgeführt, 1979 verfilmte es der zweifache Oscar-Preisträger Milos Forman (“Amadeus”). “Hair” als Appell für Toleranz und Miteinander hat 50 Jahre nach seiner Uraufführung kaum an Aktualität eingebüßt. “Natürlich ist es immer noch relevant”, sagte Autor James Rado vor ein paar Jahren, “denn es gibt immer noch Krieg auf der Welt.”

In unserer Playlist sind 13 berühmte Songs aus dem Musical zusammengestellt