Kaum Ostdeutsche ganz oben in den Eliten

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Unter den Mächtigen in Deutschland befinden sich kaum Ostdeutsche: 27 Jahre nach der Wiedervereinigung bekleiden sie gerade mal 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Woran liegt das?

Die mächtigste Frau Deutschlands, Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist eine Ostdeutsche. Man sollte also meinen: Wenn eine ganze Nation von einer Politikerin mit DDR-Herkunft regiert wird, steht es ganz gut um die Repräsentation von Ostdeutschen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Zu dieser Einschätzung kommen Soziologen der Universität Jena und der Hochschule Zittau/Görlitz.

Sie sind der Frage nachgegangen, wieso Ostdeutsche in Elitepositionen nach wie vor unterrepräsentiert sind. Das Ergebnis ist in der Broschüre “Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven” der Deutschen Gesellschaft e.V. nachzulesen.

Darin heißt es: 27 Jahre nach der Wiedervereinigung sind gerade einmal 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Deutschland  von Ostdeutschen besetzt. Und das bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 17 Prozent. Ostdeutsch – für die Forscher heißt das: Menschen, die in der DDR sozialisiert und vor 1976 geboren wurden.

“Im politischen Bereich gibt es eine einigermaßen angemessene Vertretung Ostdeutscher gemäß ihrem Bevölkerungsanteil”, konstatiert Raj Kollmorgen, Soziologieprofessor an der Hochschule Zittau/Görlitz. Aber in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien – hier überall seien Ostdeutsche deutlich unterrepräsentiert.

Bildungsministerin Johanna Wanka ist die einzige in der Regierung mit Ostwurzeln – neben Bundeskanzlerin Merkel

Beispiel Verwaltung. In den Bundesministerien, aber auch in den Landesministerien finden sich kaum Abteilungsleiter mit ostdeutschen Wurzeln. Ostdeutsche sind dort in der Minderheit. “Je höher die Position ist, vom Abteilungsleiter über den parlamentarischen Staatssekretär bis zum Minister, desto weniger Ostdeutsche finden wir”, so Kollmorgen. Dieses krasse Missverhältnis habe sich keineswegs gebessert in den letzten Jahren. Im Gegenteil.

Nachwehen der Wiedervereinigung

Die große Frage ist also: Warum ist es offenbar für Ostdeutsche so schwierig, ganz nach oben zu kommen? Und das fast drei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR?

Um darauf Antworten zu finden, muss man sich die Stunde Null des wiedervereinigten Deutschlands genauer ansehen. Den Beitrittsprozess der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland, wie der Soziologe Kollmorgen es nennt. Viele Führungspositionen fielen von einem Tag auf den anderen weg. Einen Kombinatsdirektor etwa kennt die Bundesrepublik nicht. Auch Diplome oder Ausbildungszeugnisse waren plötzlich nichts mehr wert.

Zum Richter oder oberen Verwaltungsbeamten steigt aber nur auf, wer zur Karriere-Elite gehört, sich eine ganze Laufbahn lang also Schritt für Schritt nach oben gearbeitet hat. Hinzu kommt: Viele Ostdeutsche waren Parteimitglieder oder hatten Funktionen im SED-Staatsapparat inne. Ihnen sei zugleich auch die moralische Qualifikation abgesprochen worden, sagt Kollmorgen.

Die Elite im Osten bilden Wessis – immerhin sind die meisten Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer echt ostdeutsch

Die Folge: Rund um die Wiedervereinigung wurden die meisten Eliten in Ostdeutschland ausgetauscht. Durch den Umbruch entstand ein Vakuum. In Verwaltung und Justiz mussten viele Ostdeutsche erst nachgeschult werden und neue Qualifikationen erwerben, ehe sie Ämter und Führungspositionen übernehmen konnten. Diese Lücke wurde mit Nachwuchsbeamten aus den alten Bundesländern gefüllt. Viele haben das als eine Art Verdrängungswettbewerb Ost gegen West wahrgenommen.

Diese Kränkung wirkt teilweise bis heute nach. So schreibt Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, in der Online-Publikation: “Die Ostdeutschen haben nicht damit gerechnet, dass dieser Umbruch ihr Leben derart radikal und schonungslos verändern würde. Viele hatten einen Bruch in ihrer Biografie und beruflichen Karriere zu verkraften.”

Kader statt Elite

Für das DDR-Regime gab es keine Elite. Lieber sprach man von Kader. Führungskräfte sollten politisch-ideologisch in das System eingebunden sein, so der Anspruch. Der Kader hatte die Funktion, die Macht der SED-Regierung zu erhalten und auszubauen. Wer in der DDR etwas werden wollte, musste folglich SED-Mitglied sein und auf das Wohlwollen der Partei hoffen.

Ganz anders hingegen funktionieren Elitenetzwerke in den alten Bundesländern. Es ist eine bekannte Weisheit der Soziologie: Eliten reproduzieren sich grundsätzlich selbst. “Neue Positionsbewerber werden nach Kriterien der Ähnlichkeit, der vermuteten Qualifikation und des wechselseitigen Kennens gefunden”, erläutert Kollmorgen. Man kennt sich also und bleibt unter sich. Wer als Ostdeutscher an die Türen der Machtzirkel klopft, hat kaum Chancen.

Soziologe Kollmorgen: Je höher die Position, desto schlechter die Chancen für Ostdeutsche

Ein weiterer Grund: Ostdeutschsein werde nach wie vor eher mit einem Verliererstatus verbunden als mit Erfolg oder Karriere, so eine Beobachtung. Die Konsequenz: Wer aus Ostdeutschland kommt, müsse seine Herkunft verleugnen, um in der Führungsriege zum Zuge zu kommen.

Es ist ein Problem, das sich selbst verstärkt: Ostdeutsche erkennen, dass sie weniger Chancen haben – und starten erst gar nicht den beschwerlichen Aufstieg in die Eliten. Hinzu kommen die Erfahrungen durch die Wendezeit mit einer hohen Arbeitslosigkeit. “Viele Ostdeutsche sind eher an einem sicheren Arbeitsplatz interessiert als an einer Spitzenposition”, sagt Kollmorgen.

Elitenhass als Folge?

Doch was macht die Erfahrung, die gläserne Decke zur Elite partout nicht durchstoßen zu können, mit den Ostdeutschen? Dazu wurde bislang kaum geforscht. Es liegt nahe, ein großes Misstrauen in die Oberen zu vermuten. Das Pöbeln auf ostdeutschen Marktplätzen gegenüber Spitzenpolitikern, die Hassparolen der Pegida-Anhänger in Dresden, der Erfolg der AfD – all das kann auch eine Folge der Mindervertretung der Ostdeutschen sein.

Was aber ist zu tun, dass Herkunft in der Elite keine Rolle mehr spielt?

Von einer Ossi-Quote, wie sie etwa von der Linksfraktion gefordert wurde, hält der Soziologe Raj Kollmorgen wenig. Das sei schon rechtlich nicht machbar, da wegen der Binnenmigration von Ost nach West – und umgekehrt – die genaue Herkunft oft kaum mehr nachvollziehbar sei. Seine Forderung: “Wir müssen in erster Linie ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es Ostdeutsche heute in der Elitenrekrutierung nach wie vor schwer haben.” Hier gebe es Handlungsbedarf. Es sei aber generell nach wie vor schlecht bestellt um die soziale Mobilität in Deutschland. Ein Problem, auf das aber auch Migranten oder Menschen mit Behinderung stoßen.

Angela Merkel übrigens, die als Ostdeutsche wohl eine der steilsten Karrieren vorzuweisen hat – sie gilt vielen Bürgen in den neuen Bundesländern gar nicht als “eine von uns”. In den Augen vieler gehört Merkel längst der westdeutschen Polit-Elite an. Merkel, so die Wahrnehmung, sei “wessifiziert”.