Akrobat der Diplomatie – zum Tod von Hans-Dietrich Genscher

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Nachruf

Akrobat der Diplomatie – zum Tod von Hans-Dietrich Genscher

Er war ein Politiker, der Deutschland prägte. Ein Staatsmann, der an der Wiedervereinigung des Landes mitwirkte. Er genoss weltweite Anerkennung. In der Nacht ist Hans-Dietrich Genscher gestorben. Ein Nachruf.

“Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise genehmigt wurde.” Es ist vor allem dieser Satz, der von Hans-Dietrich Genscher in Erinnerung bleiben wird. Er sprach ihn am 30. September 1989 auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Die letzten Worte gingen im Jubel tausender DDR-Bürger unter, die aus ihrem Land in die west-deutsche Vertretung geflüchtet waren und seit Tagen im Botschaftsgarten ausharrten. Es sei der bewegendste Augenblick in seinem politischen Leben gewesen, ließ er später in einem Interview wissen: “Das war ein Freudenschrei, wie er kaum vorstellbar ist.”

Diplomat durch und durch

Hans-Dietrich Genscher hat im Laufe seines Lebens viele politische Ämter bekleidet – doch kein anderes hat ihn so geprägt wie das Außenamt. Schon zu Beginn, 1974, nannten ihn viele einen “geschickten Anwalt des Ausgleichs” zwischen Ost und West. Mit den Abrüstungsinitiativen der “Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa” (KSZE) entwickelte er in den 80er Jahren seine eigene Entspannungspolitik. Mit ungebrochener Gesprächsbereitschaft und Verhandlungsgeschick setzte sich Hans-Dietrich Genscher für die Beendigung des Kalten Krieges ein: “Es ist unser Ziel, in Europa auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt”, sagte er 1975 in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York.

Meister der Kommunikation

Genschers Credo hieß “Auf den Anderen zugehen”: Zuhören, sich einlassen und reden. Mit dieser Strategie konnte er einerseits massiv auftreten, etwa, als er 1979 den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan auf das Schärfste verurteilte. Andererseits gelang es ihm mit diplomatischem Geschick, weiterhin als Gesprächspartner akzeptiert zu bleiben.

Anwalt des Ausgleichs: Genscher bei der Vertragsunterzeichnung zur Deutschen Einheit 1990 in Moskau

Genschers große Stunde als Außenminister bahnte sich an, als sich in der Politik Moskaus eine Wende abzeichnete. Die Sowjetunion verfolgte ein wirtschaftliches und gesellschaftspolitisches Reformprogramm, das den im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Staaten – also auch der DDR – innere Reformen zubilligte.

Wiedervereinigung mit der alten Heimat

Diese Entwicklung nahm Genscher zum Anlass, die politische Führung der DDR zum Umdenken aufzufordern. Die Proteste der Menschen, die sich in Ostdeutschland für Freiheit einsetzten und die Tausenden DDR-Bürger, die sich als Flüchtlinge in Ungarn und der Tschechoslowakei in den Deutschen Botschaften aufhielten, halfen, seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.

Mit der Deutschen Einheit ging für Genscher ein Traum in Erfüllung: Zumal er selbst aus Ostdeutschland stammte. Der “Dicke mit den großen Ohren”, wie Karikaturisten ihn immer wieder liebevoll zeichneten, wurde 1927 in der Nähe von Halle geboren – nach der Wiedervereinigung zog es ihn immer wieder dorthin. Als Mitglied der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands erlebte er die Anfangsjahre der kommunistischen Herrschaft in der DDR. 1952 setzte sich Genscher nach Bremen ab und wurde Anwalt.

Schwere Stunden einer Politikerkarriere

Als Mitglied der FDP bekleidete Genscher in der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt von 1969 bis 1974 das Amt des Bundesministers des Inneren. In diese Zeit fiel auch der Angriff palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft, die 1972 an den Olympischen Spielen in München teilnahm. Die als Geiseln genommenen Mitglieder des Teams, ein deutscher Polizist und fünf Terroristen kamen bei dem Befreiungsversuch ums Leben: “Das war der schrecklichste Tag meiner langen Amtszeit als Mitglied der Bundesregierung. Ich wünsche jedem anderen Menschen, dass er eine solche Erfahrung nie machen muss”, sagte Genscher später. Er bemühte sich damals, eine Freilassung der Geiseln auf friedlichem Wege zu erreichen.

Genscher im Jahr 2014

Seitenwechsel

Von 1974 bis 1992 hatte Genscher das Amt des Bundesministers des Auswärtigen inne und war gleichzeitig Vizekanzler – zunächst im Kabinett des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt. 1982 kehrte er dieser Koalition den Rücken und öffnete sich einem Bündnis mit der konservativen CDU/CSU: Ein Schritt, den ihm viele in seiner Partei übel nahmen und der ihm, wie er später zugab, nicht leicht gefallen war – auch, weil er Helmut Schmidt als starke Persönlichkeit geschätzt habe.

Wegen Kritik an seinem Führungsstil gab Genscher 1985 den Parteivorsitz ab. Der FDP blieb der dennoch treu – seit 1992 ist Genscher ihr Ehrenvorsitzender. Bis zuletzt trat er immer wieder als Förderer junger Talente in Erscheinung. Vor allem der kürzlich verstorbene ehemalige Parteivorsitzende Guido Westerwelle wurde von Genscher maßgeblich unterstützt.

Karikiert und geachtet

Aus der aktiven politischen Laufbahn zog sich Genscher 1992 zurück. Viele Karikaturisten nahmen das mit Bedauern zur Kenntnis: Der Politiker Genscher war für sie ein beliebtes Motiv. Die Zeitschrift “Titanic” erschuf den “Genschman”. In Anlehnung an die Comicfigur Batman stellte sie ihn als den Weltenretter dar, der jede Krisensituation meistert. Hans-Dietrich Genscher wurde 89 Jahre alt und wird als einer der wenigen deutschen Staatsmänner mit Weltruhm im Gedächtnis bleiben.