Kobler: “Die Situation ist anarchisch”

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Libyen

Kobler: “Die Situation ist anarchisch”

Die Situation in Libyen ist chaotisch. Und das nutzt der Islamische Staat aus. Eine Regierung der nationalen Einheit soll dem Land Stabilität bringen. “Wir müssen einen ersten Schritt machen”, sagt der UN-Sondergesandte.

DW: Nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi vor fünf Jahren gab es große Hoffnungen, was die libysche Zukunft angeht. Jetzt versinkt das Land im Chaos. Hat die internationale Gemeinschaft versagt?

Martin Kobler: Die internationale Gemeinschaft hat sicher einen Fehler gemacht nach 2011, als sie das Land allein gelassen hat und nach dem Sturz von Gaddafi gesagt hat, die Libyer sollen das ‘Follow-Up’ der Revolution allein zustande bringen. Das hat augenscheinlich nicht geklappt. Das waren Fehler und ich glaube, das erkennen wir heute alle an. Jetzt geht es darum, das zu reparieren und eine
Regierung der nationalen Einheit herzustellen, die durch das Parlament in Tobruk geht und ihren Sitz letztendlich in Tripolis hat. Ja – man hat das Land allein gelassen, aber nein – es ist noch nicht zu spät. Man muss jetzt mit aller Macht versuchen, das Land aus dem Chaos und der Anarchie herauszuholen und wieder zusammenzuführen. Und das machen wir. Da begleiten wir die Libyer in diesem sehr schwierigen Prozess.

Russia Today berichtete in diesen Tagen, dass die EU eine Marionettenregierung und Bodentruppen in Liyben einsetzen möchte. Was ist an diesen Mutmaßungen dran?

Ich glaube, ausländische Bodentruppen stehen auf der Agenda von niemandem. Vielleicht geht es darum, jetzt Ausbildungsmaßnahmen zu organisieren für eine neue libysche Sicherheitsstruktur, die aufgebaut werden muss. Denn das ist das dringendste Problem, dass in einem Land des Chaos, einem Land der Milizen und einem Land der Anarchie und der Rechtlosigkeit Sicherheit hergestellt wird. Das geht mit einer einheitlichen Armee, durch eine einheitliche, nicht fragmentierte Polizei. Und sollte eine Regierung dann entscheiden, ausländische Hilfe in Anspruch zu nehmen, dann ist es ihr souveränes Recht.

Sie haben vor internationalen Luftangriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Libyen gewarnt, solange die angestrebte Einheitsregierung nicht eingesetzt ist. Verpasst man so nicht die Chance, den IS rechtzeitig außer Gefecht zu setzen?

Ich bin völlig einverstanden mit denen, die sagen, dass der IS gestoppt werden muss. Und mit dem IS, mit den ‘Daesh’, und anderen islamistischen Gruppen wie Ansar al-Sharia und Al-Qaida kann man nicht verhandeln, da kann es nur eine militärische Lösung geben. Das ist völlig klar. Das muss aber zuerst eine Lösung der Libyer selbst sein. Sie müssen selbst eine Sicherheitsstruktur aufbauen, mit der sie in der Lage sind, mit Bodentruppen dem Treiben des IS Einhalt zu gebieten. Der IS dehnt sich ständig weiter nach Osten, Westen und Süden aus. Dem kann man nicht tatenlos zuschauen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch wichtig, dass der politische Prozess weitergeht. Es muss eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden und diese muss dann nach Tripolis gehen. Es muss eine Sicherheitsstruktur aufgebaut werden. Und die libyschen Sicherheitskräfte können dann den IS selbst bekämpfen – wenn die souveräne Regierung möchte, auch mit ausländischer Hilfe.

Länder wie die USA und Italien vermittelten im vergangenen Dezember zwischen den libyschen Konfliktparteien, um einen Friedensplan auf den Weg zu bringen

Wie will man die unterschiedlichen Stämme in Libyen in den politischen Prozess integrieren?

Es ist wichtig, dass man die Stämme, aber auch die Gemeinden und Städte in den politischen Prozess integriert. Das geschieht ja in anderen Ländern auch. Wir haben als Vereinte Nationen auch große Erfahrungen in Afghanistan, wo es auch ein Parlament gibt, aber wo es auch die ‘Loja Dschirga’ gibt, die Versammlung der Stammesältesten. Wir arbeiten sehr viel mit den Stämmen vor allem im Osten von Libyen. Dann gibt es noch weitere Minderheiten: die Tebu und Tuareg. Sie sind im Süden mit involviert und betreiben teilweise Menschenschmuggel. Es ist ganz wichtig, dass es hier keine staatsfreien Räume geben darf. Ich gebe ja zu, dass die Situation schwierig, unübersichtlich, komplex, chaotisch und anarchisch ist. Aber die längste Reise fängt mit dem ersten Schritt an. Wenn man sagt, die Situation ist schwierig und übersichtlich, dann ist es auch keine Lösung. Das darf nicht zur Passivität verführen – im Gegenteil. Das muss zur Aktion führen, sodass man einen ersten Schritt macht, auch wenn er schwierig ist.

Was geschieht mit den Anhängern des früheren Machthabers Gaddafi? Wie werden sie in die Regierung integriert?

Die jetzige Liste der Regierung sieht ja einige Mitglieder der alten Garde Gaddafis vor. Aber es muss auch klar sein – das ist ein Internationaler Grundsatz auch der Vereinten Nationen -, dass es für schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen kein Pardon geben darf. Diese Verbrechen müssen verfolgt werden und da müssen die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Es gibt in allen totalitären Regimen Leute, die kein Blut an den Händen haben, und in unserem Jargon nennt man das ‘Transitional Justice’, die Übergangsjustiz. Man muss die nationale Versöhnung vorantreiben. Nur so kann das Land wieder zusammengeführt werden. Und die neue Regierung hat ja durchaus
in ihrer Vorschlagsliste einige Minister, die eine Funktion unter Gaddafi hatten.

Besteht nicht die Gefahr, dass sie sich dem IS anschließen?

Es besteht immer die Gefahr, dass sich Elemente dem IS anschließen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Islamische Staat in Libyen zu 70, 80 Prozent aus Ausländern besteht – aber nicht aus Libyern. Das sind Menschen, die von außen kommen. Man muss die wirtschaftliche Situation verbessern, damit vor allem die Jugend nicht zum IS überläuft. Es geht nicht um die alte Garde. Es geht um viele Jugendliche, die keine Perspektive haben, wenn man sie ihnen nicht gibt. Und 95 Prozent der Bevölkerung stehen hinter dem libyschen, politischen Abkommen und sie stehen hinter einer Regierung der nationalen Einheit, wenn sie denn gebildet wird. Alle Menschen sind müde: Sie sind müde des Bürgerkrieges; sie sind müde des Kampfes und sind müde immer Angst zu haben, um ihre persönliche Sicherheit und dass ihre Kinder auf dem Weg zur Schule entführt werden. Das muss ein Ende haben. Und da muss das Parlament in Tobruk über den eigenen Schatten springen, mit dem Ping-Pong spielen aufhören. Bis jetzt hat das noch zu keiner Lösung geführt. Die Regierung der nationalen Arbeit muss jetzt an die Arbeit, und das in Tripolis und dafür kämpfen wir.

Martin Kobler ist der UN-Sondergesandte für Libyen. Zuvor war der deutsche Diplomat Chef der UN-Friedenstruppe in der Demokratischen Republik Kongo, der ‘Monsuco’.

Das Interview führte Carole Assignon.