“Memento”: Videoclip zum Holocaust-Gedenktag

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“Memento”: Videoclip zum Holocaust-Gedenktag

Zeitzeugen waren bislang die wichtigsten Erinnerungsträger des Holocaust. Aber die letzten Überlebenden sind bald nicht mehr da. Wie Erinnerung in Zeiten von YouTube aussehen kann, zeigt dieser Videoclip.

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“Memento” – Videoclip zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar

Ein Junge sitzt neben Eisenbahnschienen, hält sich die Ohren zu. Endlos rattern Güterwaggons vorbei, Transportzüge rollen in das Vernichtungslager Auschwitz. Ein zerknüllter Zettel flattert heraus – mit Namen der Menschen, die wie Vieh transportiert werden: ohne Wasser, ohne Essen, ohne Identität. Nummern auf einer Transportliste der Nazibehörden. Janusz Korczak steht ganz oben auf dem Zettel, der Name des polnischen Arztes, der die Kinder seines Waisenhauses ins Vernichtungslager Treblinka begleitete, obwohl das für ihn den Tod bedeutete. Ein Nationalheld in Polen und in ganz Osteuropa.

Zettel spielten im Leben der Überlebenden ein große Rolle: Auf einem schlichten Zettel wurde den jüdischen Familien Tag, Uhrzeit und Ort ihres Abtransportes mitgeteilt. Kleine abgerissene Zettel waren die letzte Chance, jemand mitzuteilen, dass man “nach Osten” verschickt wurde – mit einer Fahrkarte der Deutschen Reichsbahn “Auschwitz einfach” in der Tasche. Zettel, vollgekritzelt mit Überlebensbotschaften, waren im Lager die einzige Möglichkeit, Kontakt untereinander aufzunehmen.

Denkmal für Janusz Korczak und seine Waisenkinder in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem

Erinnerungskultur für die YouTube-Generation

In Warschau ist die Institution beheimatet, die diesen außergewöhnlichen Videoclip produziert hat: das Europäische Netzwerk für Erinnerung und Solidarität. Es beschäftigt sich nicht nur mit dem Holocaust, sondern auch mit den Opfern des Stalinismus in Osteuropa.

Für dieses Projekt, ein Gedenk-Video zum 27. Januar zu produzieren, hätten sie eine breite Zielgruppe im Kopf gehabt, sagt Rafal Rogulski, der Direktor des Europäischen Netzwerkes, im DW-Gespräch. “Normalerweise richten wir unsere Projekte in Richtung der jüngeren Generation. Das ist bei diesem Videoclip nicht anders. Aber mit dieser Art des Gedenkens kann man eigentlich alle Menschen erreichen. Zumindest die, die wenigstens ein Grundwissen über den Holocaust haben.”

Rogulski hat lange mit dem polnischen Politiker und Auschwitz-Überlebenden Wladyslaw Bartoszewski (1922 -2015) zusammengearbeitet und weiß, wie schwer es ist, Menschen heute für diese Erinnerungskultur zu interessieren.

Zeichner Art Spiegelman (hier 2012 in Paris) erhielt 1992 den Pulitzer-Preis für seinen Holocaust-Comic “Maus”.

Orientiert haben sich die Produzenten des Videoclips an den schwarz-weißen Comiczeichnungen des amerikanischen Künstlers Art Spiegelman. Er hatte als Erster das Thema “Holocaust” als Graphic Novel (“Maus”) aufbereitet. Die Idee, einen gezeichneten, künstlerischen Videoclip zu produzieren, sei spontan entstanden, erzählt Hans-Christian Jasch, der als Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin auch Koproduzent des Videoclips ist.

Zusammen mit der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau war die Ausrichtung dieses besonderen Erinnerungsprojektes schnell entschieden. “Wir haben zusammen mit dem Regisseur Zoltán Szilágyi Varga nach Wegen gesucht, wie man in der Zeit der YouTube-Formate am Holocaust-Gedenktag Aufmerksamkeit und Interesse für das Thema generieren kann”, sagt Jasch im DW-Interview. ” Es ging uns darum, einen kleinen Animationsfilm herzustellen, der das Publikum beunruhigt und zur weiteren Nachfrage reizt.”

Zeichentrick statt Zeitzeugen

Es sei natürlich ein Risiko gewesen, diese comicähnliche Form zu wählen, aber Regisseur Varga habe als Grafiker und internationaler Künstler viel Erfahrung mitgebracht. “Ich habe einen Moment lang gestockt, aber es hat mich überzeugt, dass man heute doch mal nach anderen Darstellungsformen suchen muss”, berichtet Jasch. “Natürlich sind das ikonische Bilder: diese rollenden Güterwaggons. Aber wir dachten, dass Comics als Form für jüngere Leute einprägsamer sind.”

Im Gedenkjahr 2015, 70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, waren die deutschen Medien mit einer Flut von Zeitzeugen-Interviews überschwemmt worden. In TV-Sows saßen “die letzten Überlebenden”, wie sie in der Presse genannt wurden, als Aushängeschilder der Erinnerung, neben den üblichen Talkgästen aus Show, Film und Politik.

Kinder bei der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau – heute unsere ZeitZeugen

“Memento” will Neugier wecken

Mit dem Videoclip “Memento” sind die Produzenten deshalb bewusst einen anderen Weg gegangen: ohne die abstrakte Zahl von Millionen von Toten, ohne Bilder aus den Vernichtungslagern, ohne Aussagen von Zeitzeugen. Der Film im Comicstil soll unter die Haut gehen, auch wenn man nicht auf den ersten Blick versteht, worum es geht. Ein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur, konstatiert Jasch: “Es ist eher eine Art Teaser, um sich wieder für dieses Thema zu interessieren. Und jemand, der das im Netz sieht und sich fragt, was ist das überhaupt, der klickt ihn vielleicht auch mehrfach an.”

Der Direktor des Europäischen Netzwerkes, Rafal Rogulski, ist jedenfalls mehr als zufrieden mit dem Resultat. “Man hat gespürt, dass der Künstler Zugang zu diesen Gefühlen hat. Und dass er sie auch mit dem Kohlestift aufs Papier bringen kann.” Die emotionale Qualität des Videoclips von Regisseur Zoltán Szilágyi Varga spricht da für sich.

Historische Dokumentationen oder Webvideos zum Thema Holocaust sind ohne Aussagen von Zeitzeugen bislang kaum denkbar. “Wir versuchen in Deutschland natürlich, solang es noch möglich ist, viel mit Zeitzeugen zu machen”, sagt Hans-Christian Jasch. “Diese unmittelbare Erfahrung wird man auch in Zukunft nicht ersetzen können. Auch nicht durch eine künstlerische Gestaltung oder 3D-Animationen”, gibt er im DW-Interview zu Bedenken. “Memento” setzt da als Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur für den 27. Januar einen neuen Impuls für die YouTube-Generation des 21. Jahrhunderts.